Alain Altinoglu & Schostakowitsch »Von Schostakowitsch ist alles weit entfernt.«

»Plastisch, prägnant, perfekt koordiniert« – so fasste die Frankfurter Rundschau im September 2021 das Antrittskonzert von Alain Altinoglu in seinem Amt als Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters zusammen. Drei Attribute wurden da genannt, die nun auch besonders gefragt sind, wenn es um jenen Komponisten geht, der einen Schwerpunkt bilden wird in der künftigen Programmgestaltung: Dmitrij Schostakowitsch.

Alain Altinoglu
Alain Altinoglu Bild © Marco Borggreve

Wobei Altinoglu selbst wiederum drei Anforderungen an sein Orchester stellt für diese speziellen Werke des wohl bekanntesten Sinfonikers des 20. Jahrhunderts, der in seiner künstlerischen Haltung und Physiognomie derzeit so aktuell ist wie nie: »Schostakowitsch erfordert ein kraftvolles, scharfes, schneidendes Spiel, bei dem man sich traut, an die Grenzen der instrumentalen Möglichkeiten zu gehen«, sagt der Dirigent, der sich in Frankfurt zunächst vor allem mit französischem Repertoire vorgestellt hat.

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Also mit Musik, die denkbar weit weg ist vom solitären Tonfall des Russen, oder? »Man kann sagen, dass alles weit weg ist von Schostakowitsch!«, lacht Altinoglu, der seine Rolle als Chefdirigent darin sieht, sich mit der kompletten Repertoire-Breite auseinanderzusetzen, nicht zuletzt, um eine musikalische Idee, einen »stilspezifischen Klang« aufzubauen. »Aber ich möchte auch die Identität des großen Orchesters, die wir bereits haben, unbedingt erhalten.«

Geheimnisse bewahren

Vom Orchester verlangt ein Schostakowitsch größtmögliche Schärfe, aber was verlangt er vom Dirigenten? »Jeder Komponist erfordert andere Qualitäten von seinen Dirigenten«, weiß der Franzose, den die Süddeutsche Zeitung einen »sensiblen Klangfarbenmagier« nannte. »Die politische Verbindung der meisten Schostakowitsch-Sinfonien mit der Stalin-Ära ist ja gut bekannt. Man muss die Fähigkeit haben, nicht an der Oberfläche der Noten zu bleiben, sondern tief in die russische Seele und Gesellschaft einzutauchen. Dies geschieht durch eine sehr direkte musikalische Aussage, die keine Umschweife macht, aber doch auch ihre Geheimnisse bewahrt.«

Dmitrij Schostakowitsch
Dmitrij Schostakowitsch Bild © hr-Archiv

Ist Schostakowitsch, der von Stalin als Intimfeind auserkoren worden war und der bis zu dessen Tod quasi gegen ihn ankomponierte, in unseren Tagen so aktuell wie schon lange nicht mehr? Als ein Künstler in der sowjetischen Diktatur, der täglich balancieren musste in seiner Musik zwischen Zivilcourage und Anpassung? »In der aktuellen Situation passt eine Beschäftigung mit Schostakowitschs Werken natürlich besonders gut«, sagt Alain Altinoglu. »Aber ich glaube, dass sich der Stellenwert und die Bedeutung von Musik in der Gesellschaft seit dieser Zeit dann doch verändert hat. Wahrscheinlich lässt sich ein heutiger diktatorischer Herrscher nicht wirklich von einer Sinfonie stören, selbst wenn sich in ihr Botschaften gegen ihn versteckten.«

Schostakowitschs Aufbruch – auch in die Filmmusik

Dmitrij Schostakowitsch
Dmitrij Schostakowitsch Bild © hr-Archiv

Um Schostakowitschs Aufbruch wird es in dieser Saison gehen, mit der 1. Suite für Jazzorchester und der 1. Sinfonie, die 1926 bereits all das enthält, was so typisch werden sollte für den Stil des Komponisten: klangliche Reibungen, extreme Register, lyrische Momente von bezaubernder Art und ironisch überhöhtes Jubelpathos zum Finale. Und zu erleben sein wird auch seine erste eigene Stummfilm-Vertonung, entstanden 1929 für »Das neue Babylon« und angefüllt mit Operettenmelodien, Revolutionsliedern, Can-Can und Walzer. Ein Aufbruch in eine neue Qualität auch von Filmmusik eben.

Quelle: hr-Sinfonieorchester