Junges Konzert – 31.01.2018 Flötissimo!
Maurice Ravel: Le Tombeau de Couperin | Jacques Ibert: Flötenkonzert | Jean Sibelius: 3. Sinfonie
Davon träumt wohl jeder Erfinder: Man erschafft etwas, das sofort einen neuen Standard definiert und zugleich als Messlatte ausgerufen wird, nach der sich alle strecken müssen.
Im Jahr 1934 gelang dies dem Komponisten Jacques Ibert. Sein Wiesel-flinkes Flötenkonzert wurde quasi am Tag der Uraufführung zum Klassiker dieses Genres ernannt und der Finalsatz im gleichen Jahr noch zum Wettbewerbsstück am Pariser Konservatorium bestimmt. Nur wer dieses Werk zu meistern verstand, konnte als der wahre Virtuose am Silberrohr gelten. Beim hr-Sinfonieorchester treffen jetzt gleich zwei dieser Flöten-Virtuosen aufeinander: Clara Andrada de la Calle, Solo-Flötistin im Orchester, und ihr spanischer Landsmann Jaime Martín, einst ihr Flötenlehrer und selbst ein brillanter Solist, widmet sich mittlerweile aber dem Dirigieren. Wenn sich Schüler und Lehrer auf gleich hohem Niveau begegnen, müssen beide vieles richtig gemacht haben.
Maurice Ravel (1875–1937)
Le Tombeau de Couperin (1914–17/1919)
DER KOMPONIST
Maurice Ravel, geboren 1875 in Ciboure in den Pyrenäen und 1937 in Paris gestorben, gilt neben Debussy als Hauptrepräsentant des musikalischen Impressionismus. Allerdings gelangte er zu einem eigenständigen Stil, der impressionistische Klangfarben mit einer klaren Formensprache und folkloristischen Elementen unterschiedlicher Provenienz verband. Ab 1889 studierte Ravel am Pariser Conservatoire Klavier, Kontrapunkt und Komposition bei Gabriel Fauré. Im Gegensatz zu Debussy lehnte er sich gegen die althergebrachten strengen kompositorischen Normen dort aber nicht auf, sondern suchte ihnen neue Aspekte und Inhalte zu verleihen. Schon seine ersten Kompositionen zeigten dabei jene für Ravel typischen chamäleonartigen Züge der musikalischen Verfremdung, Verstellung und Überzeichnung.
Der gewitzte Komponist kokettierte sein Leben lang mit modischen Trends und Einflüssen, spielte mit den Ausdrucksmitteln eines orgiastischen Klangrausches ebenso wie mit verhaltener Sinnlichkeit, rhythmisch-melodischen Exotismen und exakt kalkulierten dynamischen Effekten. Menschlich scheu und hypersensibel, zog sich der kaum 1,60 Meter große Ravel dabei in seinen musikalischen Sujets zunehmend in die fantastische Welt der Märchen zurück – ein zauberhaftes, mystisches Reich, in dessen Schutz er die Träume eines Kindes träumte. Die reale Welt, namentlich die der tradierten musikalischen Formen, erfährt in den Spiegeln dieses »künstlichen Paradieses« zahllose reizvolle prismatische Brechungen. Ravels eigentümlich distanziert wirkende Musik besticht dabei stets durch ihre außerordentliche Bildhaftigkeit und ihre gleichermaßen große instrumentationstechnische Virtuosität.
DAS WERK
»This Music feels as if I am stepping into an enchanted place … poetic and enchanting … I feel like I'm walking into a beautiful garden near a lake, hearing the sound of fresh water … It is magical!« – Derart enthusiastisch wird auf YouTube Ravels Orchestersuite Le Tombeau de Couperin kommentiert: Die Musik führe an verwunschene Orte und rufe Bilder hervor von einem Garten am See und vom Klang frischen Wassers.
Dabei bezeichnet der Titel ein Grabmal. Ließe die Musik da nicht eigentlich Düsternis und Trostlosigkeit erwarten? Endlichkeit und Grauen, verwoben mit dem Jahr 1914. In diesem Jahr, im drohenden Schatten des aufziehenden Ersten Weltkrieges, fertigte Ravel die ersten Entwürfe zu seinem Tombeau de Couperin für Klavier solo an. Fünf Jahre später arbeitete er das Werk zu einer Orchester-Suite um. Der Krieg war gerade zu Ende, Ravel litt stark unter dem 1917 erfolgten Tod seiner geliebten Mutter, zudem hatte er in den Gräben der Schlachtfelder mehrere enge Freunde verloren. Er selbst hatte sich als Lastwagenfahrer freiwillig an die Front gemeldet.
»This music feels as if I am stepping into an enchanted place« – verstörend unerwartet vor solch dramatischer Kulisse. Es hebt sich der Vorhang zu einer Retrospektive und gibt den Blick frei auf die Akteure: Da ist zunächst der Barockkomponist François Couperin, dem Ravel in der Tradition der Gedächtnismusiken sein Tombeau als musikalisches Denkmal gewidmet hat. Was hat Ravel seinerzeit dazu bewogen, auf diese Gattung aus der Barockmusik zurückzugreifen? Vielleicht war es die nostalgische Sehnsucht nach einer fernen und verlorenen Welt, nach seiner Heimat Frankreich vor den Verheerungen des Krieges. Ravel notierte dazu in einer autobiografischen Skizze, dass sein Tombeau de Couperin weniger dem Komponisten Couperin selbst galt, als dass er der unbeschwerten, lebensfrohen und heiteren französischen Musik des 18. Jahrhunderts damit ein Denkmal setzen wollte.
Dem barocken Erbe gemäß besteht die Suite in ihrer ursprünglichen Klavierfassung aus einer Folge von sechs alten Tänzen, von denen Ravel jeden einem seiner gefallenen Freunde widmete. Mit dem dritten Satz, der Forlane, hat es dabei eine besondere Bewandtnis: Ravel berichtet darüber amüsiert an einen Freund, dass der Vatikan den argentinischen Tango, der kurz vor dem 1. Weltkrieg in Europa modern wurde, als lasziven und die Moral beleidigenden Tanz verdammt und verboten und stattdessen die italienische Forlana empfohlen habe. Papst Pius X. ahnte seinerzeit nicht, was es mit der Forlana auf sich hatte: In der norditalienischen Volksmusik ist die Forlana seit dem 16. Jahrhundert ein Paartanz mit verführerischen Schritten und Gesten - umwerbend, leichtfüßig, mit erotisch-sexueller Konnotation. Der beschwingende Tanz wird zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Frankreich als Forlane ein beliebter Hoftanz. Spätere musikwissenschaftliche Forschungen ergaben noch dazu, dass die historische Forlana gerne von Kurtisanen getanzt wurde. Ravel formuliert süffisant: »Ich schufte für Papst Pius X. Sie wissen, dass diese erhabene Persönlichkeit gerade einem neuen Tanz zum Erfolg verhilft: der Forlana. Ich übertrage einen von Couperin. Ich werde mich darum kümmern, sie im Vatikan von Mistinguett und Colette Willy als Transvestiten tanzen zu lassen.«
Ravels Forlane betört durch die Einbettung von sanften, warmen Klängen und raffinierten spannungsreichen Akkorden in eine nahezu archaische Musik. Nicht unbedingt gewöhnlich für die Konzertbesucher Anfang des 20. Jahrhunderts. Angeblich habe sich bei der Uraufführung der Klavierfassung 1919 Camille Chevillard, ein angesehener französischer Komponist und Dirigent, taktweise demonstrativ seine Ohren zugehalten. Dessen ungeachtet musste die Pianistin Marguerite Long, gleichzeitig Witwe des Widmungsträgers der Toccata, als Zugabe das gesamte Le Tombeau de Couperin noch einmal spielen. Ein Jahr später wurde schließlich in den Concerts Pasdeloup in Paris die von Ravel unter Weglassung von Fugue und Toccata auf nunmehr vier Sätze gekürzte Orchesterversion der Suite uraufgeführt.
Ulrike Schädel
(Dieser Programmhefttext entstand im Rahmen des Projekts »Konzertdramaturgie« am Institut für Musikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt. Mit freundlicher Unterstützung der Cronstett- und Hynspergischen evangelischen Stiftung zu Frankfurt am Main.)
Jacques Ibert (1890–1962)
Flötenkonzert (1932–33)
DER KOMPONIST
Jacques Ibert, 1890 in Paris geboren und ebenda 1962 gestorben, gehörte als Komponist, Dirigent und Kulturfunktionär zwischen 1920 und 1960 zu den bedeutenden Figuren des französischen Musiklebens. Ibert besuchte ab 1910 das Pariser Conservatoire, wo er u.a. von Gabriel Fauré in Komposition unterrichtet wurde. Seine Studien wurden jäh durch seinen Militärdienst im Ersten Weltkrieg unterbrochen, doch 1919 konnte er mit einer Kantate den begehrten Rom-Preis und damit verbunden einen dreijährigen Studienaufenthalt in der »ewigen Stadt« erringen. Nach seiner Rückkehr etablierte er sich in Frankreich rasch als ein wichtiger Vertreter der jungen Komponistengeneration. Ab 1937 übernahm Jacques Ibert mehrere wichtige Positionen im Kulturbereich: Zunächst wurde er Direktor der Académie de France in Rom (bis 1960), zusätzlich wurden ihm nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweise Leitungsfunktionen an den Pariser Opernhäusern und beim Französischen Rundfunk übertragen. Ab 1956 war er Mitglied des angesehenen Institut de France.
Zu Lebzeiten war Jacques Ibert einer der bekanntesten und erfolgreichsten französischen Komponisten, doch dauerhaft konnten sich nur wenige seiner Werke im internationalen Repertoire behaupten. Auch vermochte er letztlich kaum einen Einfluss auf die Entwicklung der Musik in seinem Land auszuüben. Beides mag damit zusammenhängen, dass seine Werke zwar einerseits leicht zugänglich, reich an Farben und voller Esprit sind, andererseits aber eine insgesamt eklektizistische Haltung zeigen. Ibert vollzog weder die atonalen noch die dadaistischen Experimente seiner Zeitgenossen und gerierte sich nie als »Bürgerschreck«. Seine u.a. von Rameau, Mozart, den Impressionisten und Strawinsky beeinflussten, aber auch für moderne Zeitströmungen wie den Jazz offenen Kompositionen decken fast alle Gattungen vom Klavierstück bis zur Oper ab, darunter auch zahleiche Arbeiten für den Film (etwa zu Orson Welles’ »Macbeth« und Gene Kelleys »Circus«), die Bühne und den Rundfunk.
DAS WERK
Mit seiner eingängigen, inspirierten und handwerklich souverän gestalteten Musik gehörte der 1890 in Paris geborene Jacques Ibert in seiner Heimat zu den populärsten Komponisten der Generation zwischen Ravel und Messiaen. Angesichts dieser Tatsache mag es auf den ersten Blick verwundern, wie wenige seiner einst so häufig gespielten Werke sich langfristig im Opern- und Konzertrepertoire halten konnten. Schuld daran dürfte vor allen Dingen Iberts insgesamt heterogene, eklektizistisch anmutende Tonsprache sein, die in ihrer individuellen Mixtur unterschiedlicher Einflüsse zwar durchaus eine eigenständige kreative Leistung darstellt, letztlich jedoch so gut wie nichts zum künstlerischen »Fortschritt« – das unumstößliche Credo tonangebender Komponisten und Musikpublizisten im 20. Jahrhundert – beigetragen hat.
Während einst genau dies die Grundvoraussetzung für den Erfolg bei den Kritikern und beim bürgerlichen Publikum darstellte, haben sich die Vorzeichen in dieser Hinsicht spätestens nach dem Ende des Zweiten Weltriegs entscheidend gewandelt: Eine so eindeutig in der Vergangenheit wurzelnde und auf die Gegenwart zielende (statt in die Zukunft weisende) Kunst wie diejenige Iberts wurde als vermeintlich »minderwertig«, mindestens aber als »uninteressant« diskreditiert. Der Name Jacques Ibert verbindet sich nun einmal nicht mit publikumswirksamen Skandalen, dadaistischen Provokationen oder radikalen Experimenten, und so etwas ist für einen Komponisten der frühen Moderne nicht gerade förderlich im Hinblick auf dauerhaften Ruhm in den Geschichtsbüchern der Tonkunst. Iberts Ausspruch, alle musiktheoretischen Systeme könnten »Geltung für sich beanspruchen, solange man Musik aus ihnen gewinnt«, ist dabei symptomatisch für seine offene, gleichsam »liberale«, dadurch aber eben auch etwas »profillos« wirkende Haltung.
Wie so viele andere französische Komponisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hatte auch Jacques Ibert eine besondere Vorliebe für Blasinstrumente. Sie spielen sowohl in seiner Kammermusik eine herausgehobene Rolle als auch in seinen konzertanten Werken: Ibert schrieb nur ein einziges Konzert, das nicht einen Bläser als Solist in den Mittelpunkt rückt, und selbst dieses Concerto für Violoncello zeichnet sich dadurch aus, dass das begleitende Orchester ausschließlich aus Blasinstrumenten besteht.
Daher kam er auch gerne der Bitte seines Landsmannes, des bedeutenden Flötisten Marcel Moyse, nach, für ihn ein Werk für Flöte und Orchester zu komponieren. Iberts Flötenkonzert entstand 1932/33 und wurde im Februar 1934 in Paris durch den Auftraggeber und das Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire uraufgeführt. Die Leitung hatte Philippe Gaubert, der einst ebenso wie der Solist Marcel Moyse beim großen Flötenvirtuosen Paul Taffanel studiert hatte.
»Ich habe den Instrumenten in meinen Konzerten Themen gegeben, die ihren jeweiligen Klangqualitäten entgegenkommen und die ihre Ausdrucksmöglichkeiten respektieren.« Diese kaum zu widerlegende Selbsteinschätzung Jacques Iberts wird im Falle seines Flötenkonzerts nicht zuletzt dadurch gestützt, dass der Finalsatz noch im Jahr der Premiere des Werkes zum Examensstück für angehende Flötisten am renommierten Pariser Konservatorium erkoren wurde.
Nachdem das Werk aufgrund der enormen Anforderungen, die Ibert vor allem in puncto Atem- und Grifftechnik an den Solisten stellt, zunächst nur zögerlich von den Virtuosen aufgegriffen wurde, gehört das Flötenkonzert inzwischen längst zum Kernrepertoire aller großen Flötisten weltweit. Und das Konzertpublikum findet ohnehin seit jeher großes Gefallen an dem Stück mit seiner für Ibert typischen Leichtigkeit, Eleganz und Transparenz, den beiden energiegeladenen, quecksilbrig dahineilenden, hochvirtuosen Außensätzen, den jazzigen Einwürfen des Orchester-Tuttis im letzten Satz des Konzerts oder der Anmut der endlos scheinenden Flöten-Kantilenen im elegischen Andante-Nocturne als dem Zentrum der Komposition. Hinter der reizvollen klanglichen Oberfläche des Flötenkonzerts verbirgt sich gleichwohl ein hohes Maß an kompositorischer Raffinesse – etwa durch die Art und Weise, wie Ibert seine Themen im Verlaufe des Werkes umformuliert, ihr harmonisches Umfeld und ihren Charakter umdeutet, sie miteinander kombiniert und teils auch voneinander ableitet.
Adam Gellen
Jean Sibelius (1865–1957)
3. Sinfonie C-Dur op. 52 (1904–07)
Jean Sibelius, 1865 in Hämeenlinna geboren und 1957 in Järvenpää gestorben, war der Begründer und die große Vaterfigur der finnischen Kunstmusik. Der Sohn einer aus Schweden gebürtigen Familie lernte das Finnische dabei erst spät. Am Konservatorium in Helsinki studierte er bis 1889 Violine und Komposition und setzte im Anschluss seine Studien in Berlin und Wien bei Robert Fuchs und Karl Goldmark fort. Ab 1892 unterrichtete Sibelius selbst am Konservatorium von Helsinki. Eine Staatsrente ermöglichte ihm 1897, sich fortan ganz seinem musikalischen Schaffen zu widmen. 1904 zog sich Sibelius schließlich in die Einsamkeit von Järvenpää, rund 40 km vor den Toren Helsinkis, zurück, wo er – von einigen Reisen abgesehen – sein weiteres Leben zurückgezogen verbringen sollte.
Der Erbe von Brahms und Zeitgenosse Arnold Schönbergs und Richard Strauss' ging in seiner Musik andere Wege als die Avantgarde seiner Zeit. Sibelius vermied den Bruch mit der Romantik, entwickelte aber gleichwohl eine sehr individuelle, moderne musikalische Sprache. Als junger Mann war er dabei Exponent des erwachenden finnischen Nationalbewusstseins und schuf in seinen Werken die mythische Welt des Nationalepos »Kalevala« nach. Jenseits dieser bedeutenden Sammlung altfinnischer Runengesänge wirkten auch Eindrücke der finnischen Landschaft auf seine Musik ein, die in ihrem archaischen Ausdruckscharakter zunehmend eine ganz eigene Ästhetik entwickelte. Der vor allem in England und Amerika früh große Erfolge feiernde Sibelius schloss sein kompositorisches Œuvre dabei bereits im Jahre 1929, fast drei Jahrzehnte vor seinem Tod, ab. Heute gilt er als einer der Hauptrepräsentanten der nordischen Musik und vor allem als deren bedeutendster Sinfoniker.
DAS WERK
Auf sein Leben zurückblickend, notiert Sibelius 1943 in sein Tagebuch: »Die Sinfonie Nr. 3 war eine Enttäuschung für das Publikum, denn alle erwarteten etwas Ähnliches wie die Sinfonie Nr. 2. Ich sprach darüber mit Gustav Mahler, als er mich besuchte, und auch er stellte fest, dass man mit jeder neuen Sinfonie diejenigen verliert, die man mit den vorangegangenen gewonnen hat.«
Nach seiner gefeierten 2. Sinfonie erwartete man Großes von Sibelius. Dementsprechend ließ er sich lange Zeit mit seiner nächsten – erst fünf Jahre nach Vollendung der Zweiten brachte er die 3. Sinfonie heraus. 1904 begonnen, kam sie am 25. September 1907 unter seiner Leitung in Helsinki zur Uraufführung. Eigentlich hatte Sibelius sie bereits zu seinem Londoner Debüt im Frühjahr 1907 präsentieren wollen, doch die Zeit war zu knapp geworden.
Dass der finnische Komponist etwas Neues schaffen wollte, lässt sich bereits an der äußeren Anlage der Sinfonie erkennen. Sibelius kehrt der klassischen Viersätzigkeit den Rücken, indem er einen Satz streicht. Bereits in der 2. Sinfonie lässt sich eine ähnliche Tendenz erkennen: Der dritte Satz geht nahtlos in den letzten über. Es findet eine Art Verschmelzung statt. In der 3. Sinfonie hat Sibelius nun auf den Scherzo-Satz verzichtet, der normalerweise an dritter Stelle stünde. Doch hat er ihn wirklich ersatzlos gestrichen? Sowohl im ersten als auch im letzten Satz lassen sich scherzohafte Elemente entdecken, wie beispielsweise die markante Sechzehntelfolge zu Beginn, der tänzerische Charakter und der folkloristisch anmutende Tonfall.
Der erste Satz hält an der Sonatenhauptsatzform fest. Die einzelnen Formteile fließen dabei ineinander. Es ist interessant zu beobachten, wie Sibelius Motive transformiert und weiterentwickelt. Geschlossene Gebilde lassen sich kaum ausmachen – die Themen bestehen vielmehr aus Motivpartikeln, die in der Reprise wiederkehren. Das markante Sechzehntel- und Achtelmotiv der tiefen Streicher gleich zu Beginn der Sinfonie erinnert in seinem Duktus an einen Marsch und wird immer weiter fortgesponnen. Charakteristisch für die zweite Themengruppe ist der Klangteppich aus Achtelnoten, über den sich langgezogene Melodielinien ausbreiten: eine Klangkombination, die bereits im ersten Thema antizipiert wurde. Nach einer Durchführung greift die Reprise das Motivmaterial der Exposition erneut auf, jedoch in gesteigerter Form. Einzig der Schlussabschnitt des ersten Satzes fällt aus dem Rahmen: Holz- und Blechbläser stimmen einen Choral an. Ein Element, das den ersten Satz mit den beiden folgenden verbindet. Der zweite Satz lässt sich als Variationensatz lesen, der sich über insgesamt vier Strophen erstreckt. Das von den Holzbläsern vorgestellte Thema wird durch die Instrumentengruppen getragen und im weiteren Verlauf auch rhythmisch variiert. Verschiedene formale Lesarten bietet schließlich auch das Finale der Sinfonie.
Schon die 2. Sinfonie wies eine vergleichsweise kleine Orchesterbesetzung auf. In der Dritten reduziert Sibelius sie noch einmal. Mit seiner an die Wiener Klassik angelehnten Orchestrierung richtet er sich bewusst gegen die überschwänglichen Besetzungen eines Gustav Mahler oder Richard Strauss. Musikwissenschaftler bezeichnen Sibelius’ Stil daher auch häufig als neoklassizistisch. Der finnische Komponist will jedoch klassische Modelle nicht reproduzieren, sondern verwendet sie vielmehr als Ausgangspunkt einer »sinfonischen Reise«. Sibelius wendet sich mit der 3. Sinfonie von der Romantik und seiner national geprägten Vergangenheit ab und beschreitet den Weg eines europäischen Klassizismus. Doch Kritiker außerhalb Finnlands sind überzeugt, aus der Sinfonie einen folkloristischen Ton herauszuhören. Dabei hat Sibelius nach eigener Aussage niemals Volkslieder vertont. Die Themen seien alle seinem Geiste entsprungen. Der finnische Musikkritiker Karl Flodin bemerkt: »Niemals zuvor habe ich so deutlich vernommen, dass Sibelius zu allen fünf Kontinenten gehört, als ich das Glück hatte, die 3. Sinfonie kennenzulernen. Sie kann – und wird – in allen Erdteilen verstanden werden, wo Menschen ein Gespür für Musik in seiner neuartigsten und außergewöhnlichsten Ausprägung haben.«
Melissa Williams
(Dieser Programmhefttext entstand im Rahmen des Projekts »Konzertdramaturgie« am Institut für Musikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt. Mit freundlicher Unterstützung der Cronstett- und Hynspergischen evangelischen Stiftung zu Frankfurt am Main.)
Die Interpreten:
Clara Andrada de la Calle
wurde im spanischen Salamanca geboren, wo sie auch ihr Flötenstudium begann. Anschließend setzte sie ihre Ausbildung am Conservatoire de Musique in Genf bei Emmanuel Pahud und J.D. Castellon fort und schloss diese mit dem Solistendiplom ab. Am Royal College of Music in London, wo sie bei Jaime Martín studierte, wurde ihr schließlich der »Bachelor of Music with Honours (first class)« und das »Postgraduate Diploma in Orchestral Performance« verliehen.
Clara Andrada ist seit 2005 Solo-Flötistin im hr-Sinfonieorchester und gleichzeitig seit 2011 Solo-Flötistin des Chamber Orchestra of Europe. In gleicher Position wurde sie zudem bereits häufig zu renommierten Orchestern eingeladen, darunter zum London Symphony Orchestra, zum London Philharmonic Orchestra, zum NDR Elbphilharmonie Orchester, zum Schwedischen Radio-Sinfonieorchester und zum Rotterdam Philharmonic, wo sie unter der Leitung von bedeutenden Dirigenten wie Nikolaus Harnoncourt, Bernard Haitink, Valery Gergiev oder Vladimir Ashkenazy spielte.
Als Solistin hat sie mit dem Chamber Orchestra of Europe und Pierre-Laurent Aimard beim Tanglewood Festival und beim Mostly Mozart Festival in New York gespielt, außerdem u.a. mit dem hr-Sinfonieorchester, dem Orchester Ciudad de México und mit dem Orquesta Sinfónica de Castilla y León, wo sie 2015/16 »Artist in Residence« war. Für ihre erste Solo-CD-Produktion nahm sie mit diesem Orchester Werke spanischer und südamerikanischer Komponisten für Flöte und Orchester auf. Demnächst folgt eine Mozart-Einspielung mit dem Estnischen Nationalorchester unter Neeme Järvi. Als begeisterte Kammermusikerin spielt sie in verschiedenen Ensembles mit und tritt weltweit im Rahmen von bekannten Kammermusikfestivals auf.
Clara Andrada hat Meisterkurse am Royal College of Music in London, an der Buchman-Mehta School of Music in Tel-Aviv, an der Barenboim-Said-Akademie, beim Spanischen Jugendorchester sowie an zahlreichen spanischen Musikhochschulen gegeben. Als Dozentin hatte sie einen Lehrauftrag am »Musikene«, dem Konservatorium des Baskenlandes in San Sebastián, inne.
Jaime Martín
hat es nach einer herausragenden Karriere als Flötist in den letzten Jahren auch als Dirigent zu internationalem Ansehen gebracht. 2013 übernahm er die Position des künstlerischen Leiters und Chefdirigenten des Gävle Symphony Orchestra in Schweden. Er ist zudem Chefdirigent des Orquestra de Cadaqués und künstlerischer Leiter des Festival Internacional de Santander.
Zu den Höhepunkten der Spielzeit 2017/18 gehört für Jaime Martín seine Einladung zu den Saisoneröffnungskonzerten des Los Angeles Philharmonic mit Joshua Bell als Solisten, seine Debüts in Frankfurt, Bilbao, Essen und Bordeaux sowie drei Konzerte mit dem Orquestra de Cadaqués im Großen Festspielhaus in Salzburg.
Seit er sich vor fünf Jahren dem Dirigieren zugewandt hat, hat Jaime Martín mit zahlreichen renommierten Orchestern zusammengearbeitet, darunter mit dem London Philharmonic Orchestra, dem Philharmonia Orchestra London, den London Mozart Players, der Academy of St Martin in the Fields, dem Orchestre Philharmonique de Radio France, dem Orchestre National de Lyon, dem Schwedischen Radio-Sinfonieorchester und dem Saint Paul Chamber Orchestra. Sein Operndebüt gab er 2012 in Madrid und beim Festival von San Sebastián mit Mozarts Die Zauberflöte. 2013 war er erstmals an der English National Opera London zu Gast, wo er Rossinis Il barbiere di Siviglia und im Jahr darauf Le nozze di Figaro von Mozart leitete.
Jaime Martín hat als Dirigent bereits zahlreiche CD-Einspielungen beim Label »Tritó« veröffentlicht, die bei Kritikern großen Anklang fanden. Seine Aufnahmen als Solist umfassen die Mozart-Konzerte mit Neville Marriner, die Ersteinspielung der von Xavier Montsalvatge eigens für ihn komponierten Sinfonietta Concerto für Flöte und Orchester unter der Leitung von Gianandrea Noseda, Werke für Flöte, Violine und Klavier von Bach mit Murray Perahia und der Academy of St Martin in the Fields für Sony sowie Mozarts Flötenquartett für EMI.
Im spanischen Santander geboren, studierte Jaime Martín bei Antonio Arias in Madrid und anschließend bei Paul Verhey in Den Haag.