Junges Konzert – 18.05.2017 Himmel und Hölle
Peter Eötvös: Jet Stream (Uraufführung – Neufassung) | Franz Liszt: Dante-Sinfonie
Wo in Deutschland Generationen von Schülerinnen und Schülern das Wort »Goethe« buchstabieren und mit Inhalt füllen lernen, steht in Italien »Dante« auf dem Stundenplan. Denn Dante Alighieri, der um das Jahr 1300 lebte, war Italiens großer Dichter und Philosoph, an ihm kommt man nicht vorbei.
Und auch nicht an seiner »Göttlichen Komödie«, seinem Hauptwerk, das wortreich eine Expedition durch Hölle und Fegefeuer Richtung Paradies beschreibt. Genau das Richtige für den Komponisten Franz Liszt, der so ungeheuer plastisch Dichtung in Musik zu überführen verstand. Das Paradies ließ er übrigens weg – so etwas könne man nicht komponieren, hatte ihm sein Freund Richard Wagner geraten. Um zu wissen, was ein »Jet Stream« ist, wäre nun aber Physikunterricht angebracht. Oder Erdkunde? Es handelt sich um rasende Höhenwinde in der Troposphäre, dort, wo das Wetter zuhause ist. Peter Eötvös hatte diese soghafte Naturgewalt vor Augen, als er sein Werk für Solo-Trompete und Orchester komponierte. Auch oben im Himmel kann die Hölle los sein, und so hört es sich dann auch an.
Peter Eötvös (*1944)
Jet Stream (Uraufführung – Neufassung) (2002/2016)
DER KOMPONIST
Peter Eötvös, geboren 1944 im siebenbürgischen Székelyudvarhely (damals Ungarn, heute Odorheiu Secuiesc/Rumänien), gehört zu den bekanntesten und profiliertesten Persönlichkeiten der zeitgenössischen Musik. Er reüssierte zunächst als Dirigent vornehmlich Neuer Musik, längst ist er aber auch als Komponist und als Dozent weltweit hoch geschätzt. Große Erfolge feiert er insbesondere mit seinen Opern und seinen Orchesterwerken, denen oft ebenfalls szenisch-dramatische Ideen zugrundeliegen.
Nach seinem Kompositions- und Klavierstudium an der Budapester Musikakademie 1958–1965 arbeitete er in Ungarn zunächst als Theater- und Filmkomponist, bevor er 1966 nach Köln übersiedelte, um an der dortigen Musikhochschule Orchesterleitung zu studieren. Peter Eötvös arbeitete ab 1971 sieben Jahre lang im Studio für elektronische Musik des WDR Köln und wirkte 1968–1976 im Ensemble Stockhausen mit. Auf Einladung von Pierre Boulez leitete er 1978 das Konzert zur Eröffnung des Pariser IRCAM, im folgenden Jahr wurde er zum Musikalischen Direktor des Ensemble intercontemporain berufen (bis 1991), mit dem er über 200 Werke zur Uraufführung brachte. Peter Eötvös leitete bereits fast alle führenden Orchester der Welt, darunter die Wiener, Berliner und Münchner Philharmoniker, das Concertgebouw-Orchester Amsterdam oder das Cleveland Orchestra. Er dirigierte zudem an u.a. an der Mailänder Scala, Covent Garden London, am Théâtre du Châtelet in Paris sowie in Brüssel und Glyndebourne. Im Rahmen des Projekts »Eötvös hoch 3« begann Peter Eötvös kürzlich eine dreijährige intensive Zusammenarbeit mit dem hr-Sinfonieorchester.
Ab den 1990er Jahren entfaltete Peter Eötvös auch eine intensive pädagogische Tätigkeit: 1991 gründete er das International Eötvös Institute in Budapest zur Förderung junger Dirigenten und Komponisten, zudem wirkte er als Professor an den Musikhochschulen Karlsruhe (1992–1998 bzw. 2002–2008) und Köln (1998–2001). Er ist Mitglied mehrerer Kunstakademien und erhielt zahlreiche renommierte Auszeichnungen, darunter den Frankfurter Musikpreis 2007.
DAS WERK
Wer Peter Eötvös’ »Jet Stream« nicht kennt, ist wohl kaum in der Lage sich vorzustellen, dass es möglich ist, »sich dynamisch verlagernde Starkwindbänder in der Troposphäre« anschaulich zu vertonen. Denn nichts anderes ist ein Jetstream. Wie klingen 500 km/h schnelle Luftströme verwirbelnde Windbänder? Nach dem ersten Hören ist uns klar geworden, dass die neue Musik eine ganze Palette an Mitteln bereithält, um dieses physikalische Phänomen in all seinen Facetten eindrucksvoll darzustellen.
Dem ungeübten Hörer dürften viele Elemente aus »Jet Stream« zunächst fremd sein. Dennoch – oder gerade deshalb – erzielen sie starke Wirkungen. Ein Blick in die hochdifferenzierte Partitur hat uns gezeigt, dass Eötvös eine genaue Vorstellung des Klanges hat, den die vielen Instrumente erzeugen. So wird das atmosphärische Phänomen des Jetstreams plastisch.
Er schwebt frei im Raum, und die Musik erzeugt denselben Eindruck: Ihr fehlt ein harmonisches Fundament. Auch rhythmisch fehlt ein fester Bezugspunkt. Das begleitende Orchester hat genaue Vorgaben zu Takt und Metrum, die Solo-Trompete aber spielt scheinbar frei und lässt sich in ihren Phrasen nicht von der Begleitung beeinflussen. Dabei sind nicht nur die Tondauern kaum vorhersehbar, auch in der Tonhöhe bricht die Trompete immer wieder in unerwarteten Momenten nach oben oder unten aus – ein Abbild der chaotischen Natur: Sie ist fähig einzuschüchtern, aber auch fähig zu faszinieren. Dies drückt sich immer wieder in spannungsgeladenen Gipfeln intensiver Trompeten-Phrasen aus.
Da Eötvös ein Luftphänomen darstellt, erstaunt es nicht, dass mit der Trompete ein Blasinstrument im Vordergrund steht. Denn auch wenn das Werk nicht ausdrücklich Trompetenkonzert heißt, spielt der Trompetensolist die Hauptrolle. Eötvös schöpft das gesamte Potenzial der Trompete aus. Und so erleben wir nicht nur ein enormes Spektrum in Tonhöhe und Artikulation, sondern auch die gesamte Bandbreite der Klangfarben. Das bis auf wenige Ausnahmen begleitende Orchester tritt in den Hintergrund. Mit sphärischem Flirren des Schlagwerks oder beim zurückgenommenen Pizzicato der Streicher erklingt die Begleitung an diesen Stellen leise, aber gleichzeitig intensiv und kraftvoll. Man kann das Potential förmlich spüren, die Kraft der Naturgewalten, den Höhenwind, der jederzeit bereit ist, zu einem tobenden Sturm zu werden.
Eötvös nutzt mehrere Instrumente, die man im klassischen Sinfonieorchester selten findet. Vier Perkussionisten zum Beispiel erzeugen unablässig Hintergrundgeräusche – schließlich ist es in der Natur auch nie vollkommen still. Aber das Schlagwerk bildet nicht nur die Natur ab, sondern verstärkt auch die dramatische Wirkung des Stückes. Es scharrt, knackt und knistert wie energiegeladene Luft vor einem Sturm.
Peter Eötvös will sich aber mit »Jet Stream« keineswegs auf die Imitation von Naturphänomenen beschränken. Die atmosphärischen Spannungen, Kräfte und Gegenkräfte stehen, so der Komponist, für ein »ständiges Gegeneinanderlehnen von Natur und Mensch«. Wir hatten Gelegenheit, genauer bei ihm nachzufragen. »Die Natur«, so antwortete er uns, »wird vom Orchester dargestellt, der Mensch ist der Solist und die drei Orchestertrompeten bilden einen Raum und auch einen Klangraum, weil sie hinter dem Orchester in Dreiecksform stehen.«
Die Idee des Gegeneinanderlehnens wird auch in Jazzelementen deutlich, die Peter Eötvös immer wieder einsetzt. Deren Bedeutung erschließt sich mit Blick auf Eötvös' Kindheit, als er Jazz im Radio hörte – in kommunistischen Ländern damals illegal und verzerrt durch schlechten Empfang. Der abenteuerliche Charme des Jazz ist für Eötvös nie verlorengegangen und hat »Jet Stream« merklich geprägt.
Wir haben Peter Eötvös gefragt, warum er die Partitur von »Jet Stream« überarbeitet hat. Er habe sich entschlossen, so antwortete er uns, »eine neue Instrumentation zu machen, um die ursprüngliche Idee des Widerstands noch stärker zum Ausdruck zu bringen. Ich habe besonders die Streicher-Parts stärker konzentriert und an manchen Stellen den ›kämpfenden‹ Solisten vor schwerere Aufgaben gestellt.«
»Jet Stream«, schrieb uns Peter Eötvös, »endet offen, als ob die Geschichte weiterginge, vielleicht in einem Moment der relativen Windstille. So ein Stück kann man nicht ›beenden‹, der Wind hört nie auf.«
Johann Jacob, Ludwig Hirsch, Sebastian Reitermann
Franz Liszt (1811–1886)
Dante-Sinfonie (1855-56)
DER KOMPONIST
Franz Liszt, geboren 1811 im ungarischen Doborján (heute Raiding/Österreich) und 1886 in Bayreuth gestorben, verkörpert wie kaum ein Zweiter unsere Vorstellung von romantischem Künstlertum mit all seinen Licht- und Schattenseiten, seiner permanenten Suche nach künstlerischer, geistiger und nationaler Identität. Als Klaviervirtuose, Komponist, Dirigent, Pädagoge, Musikpublizist und Organisator war Liszt wohl die vielseitigste, schillerndste, prägendste und bekannteste Musikerpersönlichkeit des 19. Jahrhunderts. Seiner Zeit war er dabei immer wieder weit voraus: Seine revolutionäre Weiterentwicklung der Klaviertechnik, seine zahlreichen zukunftsweisenden kompositorischen Experimente in den Bereichen Harmonik und Form, seine innovativen musikästhetischen Konzepte, die Einführung reiner Klavierabende, sein modernes Verständnis von der Rolle des Dirigenten als Gestalter statt Taktgeber, die Methode des Unterrichtens in Meisterklassen und zahlreiche weitere fortschrittliche Ideen weisen ihn als eine Gestalt von zentraler musikhistorischer Bedeutung aus. Sein unermüdlicher und selbstloser Einsatz für das Œuvre zahlreicher Zeitgenossen wie Wagner oder Berlioz war dabei nur ein Beweis für die seltene Noblesse seines Charakters.
Im Alter von zehn Jahren verließ Liszt seine Heimat Ungarn, um zunächst in Wien bei Carl Czerny sein Klavierspiel zu vervollkommnen und anschließend von Paris aus Konzertreisen als Wunderkind zu unternehmen. Nach mehreren prägenden Jahren in der anregenden Atmosphäre der französischen Hauptstadt begab sich Liszt von 1839 bis 1847 auf einen beispiellosen und frenetisch umjubelten Tournee-Marathon durch ganz Europa. Ein ruhigeres Leben und mehr Zeit zum Komponieren suchend, ließ er sich 1848–1861 als Hofkapellmeister in Weimar nieder. Die folgenden Jahre verbrachte Liszt weitgehend zurückgezogen in Rom, wo er die niederen Weihen der katholischen Kirche empfing. Nachdem er zuletzt wieder enge Beziehungen zu seinem Geburtsland geknüpft hatte und 1875 sogar zum Gründungspräsidenten der Königlichen Musikakademie in Budapest ernannt wurde, hielt er sich schließlich von 1869 bis zu seinem Tod abwechselnd jeweils mehrere Monate lang in Rom, Budapest und Weimar auf.
DAS WERK
Franz Liszt komponierte die »Dante-Sinfonie« zwischen 1854 und 1856. Seine Grundlage war die »Göttliche Komödie« von Dante Alighieri, ein episches Gedicht, das eine Reise durch die drei Reiche der jenseitigen Welt schildert. Ursprünglich wollte Liszt jeden der drei Teile in einem Sinfoniesatz verarbeiten: »Inferno«, »Purgatorio« und »Paradiso«. Richard Wagner, der Freund und spätere Schwiegersohn Liszts, wandte jedoch ein, dass man das Paradies musikalisch nicht darstellen könne. Daraufhin ersetzte Liszt das »Paradiso« durch einen Chor-Satz, der auf dem Text des biblischen »Magnificats«, dem Lobgesang Mariens basiert.
Inferno, der erste Satz der Sinfonie, stellt das Chaos der Unterwelt dramatisch dar. Laut Dante steht über dem Tor der Hölle: »Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.« Auf diesen Vers bezieht sich Liszt im gesamten ersten Satz. Am Anfang ertönen hauptsächlich die tiefen Blechbläser – vor allem Posaunen. Dass gerade die Posaune gewählt wurde, ist kein Zufall: Denn dieses Instrument ist, da es in der Johannesoffenbarung am Tag des Jüngsten Gerichts erklingt, symbolisch aufgeladen und eng mit der Hölle verknüpft.
Der Komponist lässt die Zuhörer nur im ruhigen Mittelteil aufatmen. Dieser bezieht sich auf das ehemalige Liebespaar Paolo Malatesta und Francesca da Rimini. Francesca wurde von ihrem Mann beim Ehebruch erwischt und zieht nun in unerfüllter Liebe als Sünderin durch die Höllenkreise. Die chromatisch absinkenden Töne der Streicher ziehen an dieser Stelle der Sinfonie die eigentlich lieblich-süß klingende Englischhorn-Melodie ins Verspottende, fast schon lächerlich Wirkende. Liszt zitiert an dieser Stelle der Partitur Dantes Vers: »Es gibt nichts Traurigeres, als sich im Elend an die schönen alten Zeiten zu erinnern.«
Der zweite Satz beschreibt zunächst das Purgatorio, übersetzt: »Fegefeuer«. Die Seelen warten auf den Übergang ins Paradies. In diesem Satz verlangsamt sich das Tempo außerordentlich. Er wird meist als nicht so spektakulär wie das Inferno beschrieben. Es herrscht eine merkwürdige, fast zeitlose Stimmung, welche Erlösung erwarten lässt. Die Musik wirkt harmonisch und rhythmisch haltlos. Das erreicht Liszt durch wechselnde Taktarten: Unter anderem finden sich in der Partitur 5/4- und 7/4-Takte. Der Abschnitt gipfelt in einer groß angelegten »Lamento-Fuge«, welche »mit ihrem Gegensatz von strenger, formaler Logik und musikalischer Unbestimmtheit das Irreale der Seelen-Lage auf die Spitze treibt«, so Klaus Heitmann.
Die Sinfonie endet mit einem »Magnificat«. Es gibt chorisch den Originaltext aus der Bibel wieder und preist die Herrlichkeit des Herrn. Ein Frauenchor nimmt die Rolle Marias ein, die im »Magnificat« den Gott der Hilfsbedürftigen lobt. Liszt hat für das Ende zwei Versionen komponiert: eine zart verklingende und eine triumphierende. Meist, so auch im heutigen Konzert, wird die zart verklingende Version gespielt.
Dass Liszt das »Magnificat« in die Dante-Sinfonie einbringt, zeugt zum einen von seiner persönlichen Frömmigkeit. Gleichzeitig ist es aber auch eine Interpretation der »Göttlichen Komödie«. Will Liszt ausdrücken, dass die Seelen im Purgatorium allemal auf Gott hoffen dürfen?
Anhänger der absoluten Musik tun sich schwer mit der »Dante-Sinfonie«. Für sie sollte Musik für sich selbst stehen, unabhängig von einem außermusikalischen Programm. Die »Dante-Sinfonie« dagegen erzählt die Handlung eines literarischen Werkes. Vom Zuhörer erfordert das fast einstündige Werk Geduld und ausdauernde Konzentration. Und auch an die Musiker stellt die »Dante-Sinfonie« hohe Anforderungen. Aus diesen Gründen erscheint das Werk selten auf Konzertprogrammen. Wer sich aber auf die Musik einlässt, kann ungeahnte Erlebnisse und ein prachtvolles Stück erwarten.
Alireza Hoshiar, Benja Uhling, Jule Kunz, Sophia Seeling
(Die Autorinnen und Autoren dieser Programmhefttexte besuchen den Leistungsorientierungskurs Musik der Jahrgangsstufe E an der Musterschule Frankfurt.
Die Musterschule ist eine von zwei Spielzeitschulen des hr-Sinfonieorchesters in der Saison 2016/17.)