Junges Konzert – 12.10.2016 Das Klangmassiv
Richard Strauss: Eine Alpensinfonie
Ein Werk wie ein Gipfel. Hochalpin, trotzig-massiv. Die Steilwand unter den Orchesterstücken. Da musste einer schon das Selbstbewusstsein eines Richard Strauss haben, um ein derart gewaltiges Naturbild so großmächtig in Töne zu setzen
»Eine Alpensinfonie«, dieser vor 100 Jahren aus dem Boden gewachsene Klangfels, schildert den Tag eines Bergsteigers: seinen Aufstieg im Morgengrauen, das Gipfelpanorama, ein aufziehendes Unwetter, den glücklichen Abstieg. Dafür verlangt Strauss mehr als 100 Musiker im Orchester, einen Apparat so gewaltig und kraftstrotzend wie das Thema. Ein gutes Dutzend Fernbläser wird da die Alte Oper beschallen, Orgel und Herdengeläut, Windmaschine und Donnerblech. Wofür der Bergsteiger einen langen Tag benötigt, kann der Zuhörer in 50 Minuten durchleben. Der Effekt ist groß, das Tongemälde zum Greifen plastisch. Ein Werk, für das man schwindelfrei sein sollte und robust auch bei großen Phonstärken.
Richard Strauss (1864–1949)
Eine Alpensinfonie op. 64 (1914-15)
DER KOMPONIST
Richard Strauss, 1864 in München geboren und 1949 in Garmisch-Partenkirchen gestorben, hat man zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Avantgardisten gefeiert. Nach seinem Rückzug auf eine traditionsgebundene harmonische Sprache musste er sich später den Vorwurf des Konservativen und Reaktionärs gefallen lassen, wodurch er zu Lebzeiten allerdings bereits zum Klassiker avancierte. Als Generationsgenosse und zugleich Antipode von Mahler, Debussy, Sibelius und Pfitzner setzte er die von Hector Berlioz und Franz Liszt entwickelte Tradition der sinfonischen Programmmusik auf eine ihm eigene, neue Art fort. Der Schwerpunkt seiner sinfonischen Produktion lag dabei in dem Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende, vor seinen großen Erfolgen als Bühnendramatiker.
Als Sohn des Solo-Hornisten der Münchner Hofkapelle musikalisch sehr konservativ erzogen, lernte der junge Strauss über Hans von Bülow und andere Wagner-Enthusiasten die Werke der »Neudeutschen Schule« kennen und fand darauf rasch den Weg zu seinem eigenen Stil. 1884 debütierte er als Dirigent und war fortan bis 1924 auch an bedeutenden Opernhäusern tätig. 1898 gehörte Strauss zu den Mitbegründern der Genossenschaft deutscher Tonsetzer und engagierte sich mit Erfolg für die soziale Hebung des Komponistenstandes. 1933 übernahm Strauss für zwei Jahre die Präsidentschaft der Reichsmusikkammer. Ansonsten lebte er ausschließlich für sein kompositorisches Schaffen und seine Gastdirigate. Wegen seines politischen Engagements während der NS-Zeit umstritten, übersiedelte Strauss nach dem Krieg in die Schweiz und kehrte erst kurze Zeit vor seinem 85. Geburtstag 1949 nach Deutschland zurück, in seine Villa nach Garmisch, wo seit 1905 die meisten seiner Werke entstanden waren.
DAS WERK
1878 unternahm der 14-jährige Strauss vom oberbayerischen Murnau aus eine ungewöhnliche Bergpartie. In seinen Aufzeichnungen heißt es: »Aufbruch zwei Uhr nachts mit Leiterwagen, fünfstündiger Anstieg, infolge Verirrens pfadlos steiles, dreistündiges Abwärtsgehen, im ganzen zwölf Stunden Marsch, die letzten bis auf die Haut von Regen und Sturm durchnässt. Dann ein unbeabsichtigtes Nachtlager in einem Bauernhaus.« Nach alldem hatte der junge Strauss allerdings nicht das Bewusstsein, eine Strapaze erlebt zu haben, sondern fand die Tour »bis zum höchsten Grad interessant und originell. Am nächsten Tage habe ich die ganze Partie auf dem Klavier dargestellt. Natürlich riesige Tonmalerei und Schmarrn (nach Wagner)…« Mehr als 30 Jahre später, im Frühjahr 1911, als er auf Hugo von Hofmannsthals Text für seine neue Oper »Die Frau ohne Schatten« wartete, hat sich Strauss anscheinend an dieses Jugenderlebnis erinnert und in Garmisch mit den Skizzen zu seiner »Alpensinfonie« begonnen, seiner letzten sinfonischen Dichtung. Es mussten aber schließlich noch weitere drei Jahre vergehen, ehe Strauss – zwischen der Arbeit am 2. und 3. Akt der »Frau ohne Schatten« – mit der Niederschrift der Partitur begann. Nach genau 100 Tagen, am 8. Februar 1915, war die Komposition der »Alpensinfonie« op. 64 dann abgeschlossen.
Es hat den Anschein, dass der leidenschaftliche Bergfreund, der von seinem Arbeitszimmer in Garmisch auf das Panorama von Zugspitze und Wetterstein blicken konnte, die realistisch-illustrative musikalische Bergtour als ein Korrektiv zur symbolistischen Romantik der Hofmannsthal-Oper empfand und seiner in jener Phase geradezu bedurfte. Sein Ausspruch »Ich hab' einmal komponieren wollen, wie die Kuh die Milch gibt«, deutet darauf hin. Und aus dieser ganz naiven, unreflektiert scheinenden Haltung heraus erklärt sich auch die Unbekümmertheit der thematischen Erfindung, die die Kritiker nach der Berliner Uraufführung im Oktober 1915 schnell auf den Plan rief.
Formal wie auch instrumental ist die »Alpensinfonie« die mit Abstand aufwendigste Tondichtung von Strauss. Nicht weniger als 64 Streicher schreibt die Partitur für das gewaltige Orchester vor, außerdem reiches Schlagwerk mit Herdengeläut, Wind- und Donnermaschine, dazu Orgel sowie (möglichst zusätzlich zu den acht Hörnern auf dem Podium!) 16 Blechbläser für die von ferne hereinklingende Jagdmusik: alles in allem 137 Musiker. Nach Mahlers »Sinfonie der Tausend« (8. Sinfonie) und den »Gurreliedern« von Arnold Schönberg war das sinfonische Wettrüsten der Spätromantik damit letztlich an eine Grenze gelangt. Die »Alpensinfonie« erscheint dabei geradezu als Prototyp einer tonmalerischen Programmmusik: Mehr als 20 programmatische Zwischenüberschriften bezeichnen nicht nur die einzelnen Stationen der alpinen »Tour d'orchestre«, sondern legen zugleich auch die großflächigen Ausdrucks- und Tempokontraste des Werkes fest, dessen Mitte und Höhepunkt die Episode »Auf dem Gipfel« darstellt.
Faszinierend dabei ist die instrumentationstechnische Meisterschaft, mit der Strauss immer wieder neue, überraschende Klangfarbenmixturen und Valeurs erzeugt. Gleich der Anfang bietet ein gutes Beispiel dafür: Die poetische Vorstellung der Nacht wird von Strauss hier in die Zeitlichkeit eines assoziativ besetzten Klangvorgangs umgesetzt. Statt eines statischen Klangbildes erleben wir, wie die Finsternis vor unseren Ohren klanglich gewissermaßen herbeigeführt wird. Im Vorgriff auf Techniken des fortgeschrittenen 20. Jahrhunderts lässt Strauss einen dichtgewebten Klangschleier herabfallen, der seiner Struktur nach als diatonischer Cluster bezeichnet werden kann, seiner Wirkung nach aber den Eindruck eines undurchschaubaren dichten Tongefüges vermittelt. Während dieser Sekundschleier nun in den 20-fachen geteilten Streichern des Orchesters erklingt, markieren Klarinetten und Hörner die tonalen Halterungen des luftigen Gewebes. Der nach acht Takten schließlich eintretende Posaunen-Akkord, der bei immer gleicher pp-Dynamik einen sanften Metallglanz aufschimmern lässt, ist dabei mit seinen oberen Grenztönen fast unmerklich in zwei Tonschneisen eingepasst, die das dichte Streichergewebe, das gerade diese beiden Tonhöhenschichten ausgespart hat, bereithält.
Derartigen subtilen Klangvorgängen stehen im Verlauf des Werkes gewaltige, ja pompöse Klangeruptionen gegenüber, wobei das riesenhafte Orchester insgesamt weniger der Vorliebe für das Monumentale, als dem Verlangen nach Vielfalt entsprungen ist. Noch im Schlussbild von Strauss' »Alpensinfonie«, das die Vorstellung der Nacht wiederkehren lässt, werden nahezu alle Instrumente des Orchesters einschließlich der Orgel genutzt, ohne dass die Wirkung eines pastellfarbenen Naturbildes aufgehoben würde.
Andreas Maul