Junges Konzert – 04.03.2015 Untypisch – typisch

Robert Schumann: Ouvertüre, Scherzo und Finale | Ludwig van Beethoven: Tripelkonzert | Dmitrij Schostakowitsch: 1. Sinfonie

Ein interessantes wie lehrreiches Programm kann man in diesem Jungen Konzert unter Leitung des heutigen Conductor Laureate des hr-Sinfonieorchesters Paavo Järvi kennenlernen.

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Programm

NICHOLAS ANGELICH | Klavier
GIL SHAHAM | Violine
ANNE GASTINEL | Violoncello
PAAVO JÄRVI | Dirigent

Robert Schumann | Ouvertüre, Scherzo und Finale
Ludwig van Beethoven | Tripelkonzert
Dmitrij Schostakowitsch | 1. Sinfonie

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Ein guter Lehrer fordert seinen Schüler, er überfordert ihn aber nicht. Das wusste auch Ludwig van Beethoven, als er 1804 ein Konzert für Klavier, Violine, Violoncello und Orchester schrieb. Der Klavierpart war nämlich gedacht für Erzherzog Rudolf von Österreich, den 16-jährigen Klavierschüler Beethovens. Der war wohl gut, aber kein echter Virtuose. Und so wurde dieses ungewöhnliche Dreier-Konzert eine charmante, klassisch-ausgewogene Angelegenheit und damit gar nicht typisch für den sonst so heroisch-dramatisch dreinfahrenden Beethoven. Ein umso typischerer Schostakowitsch folgt – und das, obwohl es sich hier um die erste Sinfonie des erst 19-jährigen Komponisten handelt, um seine Studiendiplomarbeit. Die ist aber bereits vollendet-purer Schostakowitsch: hyperaktiv in der Bewegung, lakonisch im Ton, skurril im Klang, doppelbödig und überpointiert. Der Laie staunte damals und der Fachmann wunderte sich über diese so kompakte, aber turbulent ausgereizte Sinfonie.

Robert Schumann (1810–1856)
Ouvertüre, Scherzo und Finale E-Dur op. 52 (1841/45)

DER KOMPONIST

Robert Schumann, 1810 in Zwickau geboren und 1856 in Endenich bei Bonn gestorben, gilt als der prototypische Vertreter der musikalischen Romantik deutscher Prägung. In Anlehnung an Jean Paul, E.T.A. Hoffmann und andere stellte er zunächst das poetische Element mit einer geradezu radikalen Konsequenz in den Mittelpunkt seines Schaffens. Dabei beschränkte sich Schumann etwa zehn Jahre lang ausschließlich auf die Komposition zumeist zyklisch angelegter Klavierwerke, in welchen psychologisierende, erzählende, ironische und subjektiv-stimmungshafte Momente eine zentrale Rolle spielen. Erst ab 1840 sollte er sich nach und nach sämtlichen weiteren repräsentativen Gattungen seiner Zeit zuwenden.

Nach dem Abbruch eines juristischen Studiums ließ sich Robert Schumann ab 1830 in Leipzig bei Friedrich Wieck, dem Vater seiner späteren Ehefrau Clara, zum Klaviervirtuosen ausbilden. Gleichzeitig betrieb er kompositorische Studien als Autodidakt. Als sich Schumann wenig später jedoch aufgrund einer Handverletzung gezwungen sah, die ersehnte pianistische Laufbahn aufzugeben, kanalisierte er stattdessen sein vom Vater geerbtes schriftstellerisches Talent im Rahmen der von ihm mitgegründeten »Neuen Zeitschrift für Musik« und entfaltete dort 1834–1844 eine überaus einflussreiche Tätigkeit als Musikpublizist.

Infolge beruflicher Enttäuschungen zog Schumann 1845 nach Dresden um und übernahm schließlich fünf Jahre später die Position des städtischen Musikdirektors in Düsseldorf. Als sein immer stärker zerrütteter psychischer Zustand im Februar 1854 in einem Selbstmordversuch kulminierte, wurde Schumann in eine Nervenheilanstalt nahe Bonn verbracht, wo er zweieinhalb Jahre später verstarb.

DAS WERK

Das Jahr 1841 bedeutete für Robert Schumann einen Durchbruch im öffentlichen Musikleben. Während er bis dahin als Komponist von Liedern und Klaviermusik bekannt geworden war, widmete er sich nun auch größeren Orchesterwerken. So komponierte er in diesem Jahr seine 1. Sinfonie in B-Dur, den ersten Satz seines Klavierkonzerts in a-Moll sowie die erste Fassung seiner späteren 4. Sinfonie in d-Moll. Neben der Gattung der Sinfonie beschäftigte sich Schumann außerdem intensiv mit der musikalischen Form der Ouvertüre, wovon seine zahlreichen Musikkritiken dieser Zeit zeugen. Im April 1841 begann er mit Skizzen zu einer Ouvertüre in E-Dur. Zunächst war eine einsätzige Konzertouvertüre geplant. Doch bald erweiterte Schumann die Komposition um zwei weitere Sätze. »Wir wissen es noch nicht zu benennen, es besteht aus Ouvertüre, Scherzo und Finale«, notierte Clara Schumann Anfang Mai 1841 in das Ehetagebuch. Um welche Art von Komposition handelte es sich hier nun?

Schon Beethoven und Mendelssohn komponierten Ouvertüren, die nicht mehr zwingend ein dramatisches Werk eröffneten, sondern als unabhängige Kompositionen in Konzerten aufgeführt wurden. Gleichzeitig galt für Schumann der Titel »Ouvertüre« als passende Bezeichnung für den ersten Satz eines sinfonischen Werkes. Von der Form der Sinfonie unterscheidet sich »Ouvertüre, Scherzo und Finale« aber durch den unkonventionellen Aufbau: Das Werk umfasst drei statt der für die Sinfonie üblichen vier Sätze. Die Ouvertüre beginnt mit einer langsamen Adagio-Einleitung, die in einen schnelleren Allegro-Teil übergeht. Es folgt das Scherzo mit einem rhythmisch-lebendigen Thema, dem ein lyrisches Trio gegenübergestellt wird. Den Abschluss bildet das Finale, das im Vergleich zu den beiden vorausgegangenen Sätzen kraftvoller und majestätischer wirkt. Ein langsamer Satz, der in einer Sinfonie normalerweise an zweiter Stelle steht, fehlt jedoch. Auch der vergleichsweise geringe Umfang des Werkes von knapp zwanzig Minuten Gesamtdauer entspricht nicht der sinfonischen Form zu Schumanns Zeit. Über die Besetzungsstärke äußerte sich Schumann 1847 in einem Brief an Julius Melcher: »Die Sinfonien verlangen ein starkbesetztes Orchester (zum mindesten 8 erst. Viol.); Ouvertüre, Scherzo u[nd] Finale ist leichter.«

Die Schwierigkeit, das Werk einer Gattung zuzuordnen, spiegelt sich auch in Schumanns Suche nach einem Titel wider. In den Tagebucheinträgen finden sich Bezeichnungen wie »Suite«, »Symphonette«, »Sinfonietta« und »Novelle für Orchester«. Doch keine schien den Charakter des Werkes zu treffen. In einem Brief an den Verleger Hofmeister versuchte Schumann den widersprüchlichen Titelentwurf »2te Symphonie (Ouvertüre, Scherzo und Finale)« folgendermaßen zu erläutern: »[Das Orchesterwerk] unterscheidet sich von der Form der Sinfonie dadurch, dass man die einzelnen Sätze auch getrennt spielen könnte.« Dennoch stehen die Sätze nicht unabhängig nebeneinander, sondern sind durch satzübergreifende Themen miteinander verbunden. So wird zum Beispiel das Hauptthema der Ouvertüre am Schluss des Scherzos zitiert.

»Ouvertüre, Scherzo und Finale« wurde am 6. Dezember 1841 im Leipziger Gewandhaus uraufgeführt. Die Premiere war nur von mäßigem Erfolg gekrönt, da die ungewöhnliche Form des Werkes weder das Publikum noch die Kritiker überzeugen konnte. So unterzog Schumann 1845 die Komposition einer gründlichen Revision, wobei er vor allem das Finale überarbeitete. Er nutzte dies aber nicht als Gelegenheit, um das Stück, wie von Kritikern erwartet, zu einer Sinfonie auszuweiten. Allerdings nahm er es später in den 1850er Jahren auch nicht in seinen »Zyklus der Ouvertüren« auf. Bis heute scheint »Ouvertüre, Scherzo und Finale« demnach ein Werk zwischen den Gattungen Sinfonie und Ouvertüre zu sein. Es spiegelt eine Zeit des Übergangs wider, in der sich Schumann mit beiden musikalischen Formen auseinandersetzte. Doch ist die Komposition weder eine Ouvertüre, noch sollte sie mit Schumanns Sinfonien verglichen oder als deren Vorstufe begriffen werden. Denn gerade ihre Ambiguität macht sie so reizvoll für Interpreten und Hörer. Und so trifft vielleicht Schumanns eigene Beschreibung der Ouvertüre als »Sinfonie in einem kleineren Kreis« am besten auf dieses Werk zu.

Ingeborg Lorenz

(Dieser Text entstand im Rahmen des Projekts »Konzertdramaturgie« am Institut für Musikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt – mit freundlicher Unterstützung der Cronstett- und Hynspergischen evangelischen Stiftung zu Frankfurt am Main. )

Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Tripelkonzert C-Dur op. 56 (1804)

DER KOMPONIST

Ludwig van Beethoven, 1770 in Bonn geboren und 1827 in Wien gestorben, ist der wohl bekannteste Komponist der abendländischen Musikgeschichte. Weltweit gilt er als der Repräsentant Klassischer Musik, und an ihm kam nach ihm auch kein Komponist vorbei. Keines Musikers Biografie aber wurde auch so zum Mythos heroisch durchlittenen Künstlerdaseins stilisiert. Beethovens früh einsetzendes Gehörleiden, das zu seiner gänzlichen Ertaubung führte, seine widrigen Lebensumstände und die völlige Hingabe an seine Kunst boten dafür reichlich Stoff. Die Spannung von existenziellen Krisen und selbstbewusster schöpferischer Kraft durchzieht dabei Beethovens gesamte Lebensgeschichte.

Von Joseph Haydn, Johann Georg Albrechtsberger und Antonio Salieri in Wien unterrichtet, machte sich Beethoven zunächst als Pianist und Improvisator einen Namen. Eine feste Stellung an einem Hof, wie sie für Haydn zunächst noch selbstverständlich war und die Mozart zeitlebens suchte, strebte er gar nicht mehr an. Beethoven lebte als freier Künstler – freilich nicht ohne Unterstützung adliger Förderer – und komponierte, was und vor allem wie er wollte. Dabei sprengte er alle kompositorischen Konventionen seiner Zeit. Neben der Form rückte für ihn auch der Inhalt ins Zentrum seines Interesses. So ließ er in seinen Sinfonien außermusikalische Ideen in die Struktur hineinwirken. Seine Musik mit ihrem unbedingten Wirkungswillen gewinnt damit neben ihren ästhetischen auch ethische Dimensionen. Im Spätwerk stellte Beethoven schließlich alle Parameter der Gestaltung radikal in Frage und entwickelte eine musikalische Sprache, die in ihrer Reflexion der eigenen Traditionen geradezu zeitlose Modernität gewinnt.

DAS WERK

Das Konzert für Klavier, Violine und Violoncello C-Dur op. 56, besser bekannt unter dem Titel »Tripelkonzert«, hat seit jeher einen vergleichsweise schweren Stand unter Ludwig van Beethovens zahlreichen Kompositionen von herausragendem Rang. Entstanden im Frühjahr 1804 zu Beginn von Beethovens sogenannter »heroischer Phase«, kurz nach der bahnbrechenden »Eroica«-Sinfonie und in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zur ersten Fassung des »Fidelio« und zu den Klaviersonaten op. 53 »Waldstein« und op. 57 »Appassionata«, zog das so gänzlich anders geartete Tripelkonzert im Vergleich zu diesen ambitionierten Meisterwerken zumeist den Kürzeren.

Um der Komposition aber eine gerechte Beurteilung angedeihen zu lassen, muss man erkennen, dass Beethoven sich hier bewusst auf einer anderen Stil- und Ausdrucksebene bewegt: Ihm geht es diesmal nicht um das Austragen und Lösen von Konflikten mit den Mitteln der Musik, er spricht hier nicht eine breite Öffentlichkeit im emphatischen Tonfall an. Deswegen allein wird das Tripelkonzert jedoch noch lange kein verzeihlicher »Ausrutscher« eines Genies auf dem ersten Höhepunkt seines Schaffens, über den man pietätvoll den Mantel des Schweigens ausbreiten sollte.

Ganz im Gegenteil: Kaum eine andere großdimensionierte Komposition Beethovens besticht in ähnlicher Weise durch mitreißende Spielfreude, die Vielzahl höchst reizvoller Klangeffekte, eine derartige »entspannte Weiträumigkeit« der Formanlage und eine solche Fülle an einprägsamen melodischen Einfällen in den schnellen Rahmensätzen. Die Ausdruckstiefe des zentralen, kammermusikalisch gestalteten Largos steht andererseits den langsamen Sätzen in den meisten »großen« Kompositionen Beethovens in nichts nach.

Die für das Tripelkonzert charakteristische unbeschwerte Musizierhaltung weist auf die Verortung des Werkes in der Tradition der Sinfonia concertante hin – einer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts blühenden Zwittergattung zwischen einer Sinfonie und einem Instrumentalkonzert mit mindestens zwei Solo-Instrumenten. Die Sinfonia concertante hat ihre Wurzeln wiederum im barocken Concerto grosso, und Beethoven entschied sich im ersten Satz seines Tripelkonzerts in der Tat auch für eine Formgestaltung, die mit Blick auf das Ritornell-Prinzip des Spätbarock leichter zu deuten ist als im Kontext einer (für Kopfsätze klassischer Konzerte eigentlich selbstverständlichen) Sonatensatzform. Insbesondere das von Kritikern des Werkes häufig monierte Fehlen von ausgedehnteren durchführungsartigen Abschnitten mit kunstvoller Themenverarbeitung ist mit Beethovens herkömmlicher Auslegung der Sonatenform nur schwer in Einklang bringen. Stattdessen ist die wiederholende oder leicht variierende Aneinanderreihung von thematischen Einheiten das vorherrschende Gestaltungsmittel in diesem einleitenden Allegro.

Ein Grund für diese offensichtlich vorsätzliche Abkehr von der nicht zuletzt von ihm selbst gesetzten Norm dürfte in der originellen, gleichwohl heiklen Besetzung des Werkes mit drei gleichberechtigten Solo-Instrumenten liegen. Denn die Entscheidung für diese Besetzung warf neben Fragen der Klangbalance auch etwa das Problem auf, Klavier, Violine und Cello als möglichst gleichberechtigte Partner mit vergleichbar gewichtiger Funktion im musikalischen Diskurs einzusetzen, ohne die üblichen Dimensionen eines solchen Werkes durch allzu intensive motivisch-thematische Arbeit vollends zu sprengen.

In allen drei Sätzen überträgt dabei Beethoven dem Solo-Cello eine leicht hervorgehobene Rolle, indem das Instrument regelmäßig neue Themen und musikalische Gedanken zuerst präsentieren darf. Auffällig ist auch, wie häufig der Komponist das Cello in dessen höchsten, akustisch durchschlagskräftigsten Lagen einsetzt. Überhaupt sind die Streicher-Parts überaus anspruchsvoll, ohne die beiden Solisten für ihre Mühe in entsprechendem Maße mit dem Glanz des Virtuosen zu »entschädigen«. Dagegen stellt die wohl Beethovens damals 16-jährigem Klavierschüler, dem Habsburger Erzherzog Rudolph, zugedachte Klavierstimme für einen versierten Pianisten eine technisch vergleichsweise geringe Herausforderung dar. Darin dürfte – neben dem eher durchwachsenen Renommee des Werkes sowie der Aufgabe, gleich drei hochkarätige Solisten zu engagieren (und zu honorieren), die gerne bereit sind, die Aufmerksamkeit des Publikums mit zwei Kollegen zu teilen – ein weiterer Grund liegen, warum Beethovens Tripelkonzert nach wie vor viel zu selten auf unseren Konzertbühnen erklingt.

Adam Gellen

Dmitrij Schostakowitsch (1906–1975)
1. Sinfonie f-Moll op. 10 (1923–25)

DER KOMPONIST

Dmitrij Schostakowitsch, 1906 in St. Petersburg geboren und 1975 in Moskau gestorben, war neben Igor Strawinsky und Sergej Prokofjew der bedeutendste russische Komponist im 20. Jahrhundert. Kein musikalischer Weltbürger wie jene beiden, griff er die musikalische Tradition Mussorgskijs auf, vor allem dessen Realismus und die Körperhaftigkeit seiner Musik, und suchte nach einem neuen, spezifisch russischen Idiom, das bei aller Kühnheit stets verständlich bleiben sollte. Als einer der letzten großen Sinfoniker seiner Zeit wies ihm dabei der »Ton« Tschaikowskys und insbesondere Gustav Mahlers den musikalischen Weg.

Schostakowitschs Verhältnis zum kommunistischen System der Sowjetunion war ambivalent: Durchaus ein überzeugter »Linker«, gleichzeitig wie die meisten großen Künstler ein glühender Humanist, lehnte er die totalitäre Diktatur des stalinistischen Staatsapparates ab. Zweimal, in den Jahren 1936 und 1948, geriet er auch selbst in die gefährlichen Mühlen der sowjetischen Willkürherrschaft. Um das eigene Überleben in seiner geliebten russischen Heimat und die Existenz seiner Familie zu sichern, sah sich Schostakowitsch daher letztlich gezwungen, sich die offizielle Partei-Linie zu eigen zu machen. Gegenüber dem sowjetischen Staat blieb er stets loyal, 1960 trat er – wohl auf entsprechenden Druck hin – in die KPdSU ein, war von 1957 bis 1968 Sekretär des Komponistenverbandes der UdSSR und wurde 1962 sogar in den Obersten Sowjet gewählt. Gleichzeitig veröffentlichte Schostakowitsch Kompositionen, die der Doktrin des Sozialistischen Realismus zumindest nach außen hin entsprachen, und hielt »problematischere« Werke weitgehend zurück. Was er indes wirklich dachte, vertraute der Meister der musikalischen Doppelbödigkeit seiner Musik an. Und so spielte er die Rolle des »Gottesnarren« der Zarenzeit, der hinter der Maske der Einfältigkeit die Wahrheit verbarg.

DAS WERK

Ganze 19 Jahre alt war Dmitrij Schostakowitsch, als im Mai 1926 im Großen Saal der Leningrader Philharmonie seine 1. Sinfonie unter der Leitung von Nikolai Malko uraufgeführt wurde. Und mit einem Schlag hatte der junge sowjetische Komponist seinen ersten großen Erfolg errungen. Unmittelbar nach dem Konzert schlossen sich Aufführungen in mehreren Städten der Sowjetunion an, und ein Jahr später bereits war das Werk im Westen zu hören. Arturo Toscanini, Leopold Stokowski, Bruno Walter und andere prominente Dirigenten nahmen sich dort des spektakulär-unkonventionellen Stückes an. Glänzender konnte eine Komponistenkarriere eigentlich gar nicht beginnen.

Die 1. Sinfonie war die Diplomarbeit Schostakowitschs im Fach Komposition, das Dokument seines Studienabschlusses am Leningrader Konservatorium. Von 1919 an hatte der hochbegabte Junge, der erst mit neun Jahren seinen ersten Klavierunterricht erhalten hatte, Klavier und Komposition studiert – unter den schwierigen äußeren Bedingungen der ersten Jahre nach dem Krieg und der Revolution. Hinzu kam noch, dass er nach dem Tod seines Vaters (1922) über Jahre hinweg als Klavierspieler in Stummfilmkinos arbeiten musste, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Bald schon erregte Schostakowitsch ebenso als hervorragender Pianist Aufsehen wie als Komponist. »Im Spiel Schostakowitschs«, hieß es bereits 1923, »ist die lebendige und sorglose Überzeugung eines Genies zu erkennen. Diese Worte beziehe ich nicht nur auf das Spiel, sondern auch auf seine Werke. Welch ein Reichtum der Faktur und welch erstaunliche Überzeugung und Sicherheit finden sich in seinem Schaffen (insbesondere in den Variationen) – und all das im Alter von siebzehn Jahren!«

So ist denn auch die zwischen 1923 und 1925 entstandene 1. Sinfonie (trotz der Jugend ihres Schöpfers) ein »ganzer Schostakowitsch«. Die spöttische Ader, die Freude an skurrilen Wendungen, die instrumentatorische Meisterschaft und Individualität, die Fähigkeit, romantisches Pathos durch pathetische Floskeln in Frage zu stellen – was immer die späteren Werke charakterisieren wird, findet sich hier bereits in genialer Unbekümmertheit vorgeprägt. Vom ersten Takt an regiert quirlige Turbulenz, gezeugt aus zackigen, mitunter vernehmlich kichernden Motiven, die sich immer und immer wieder neu über- und nacheinander formieren; Material dieser Art bietet Schostakowitsch die Möglichkeit, nach Herzenslust seine kontrapunktischen Kabinettstückchen abzufeuern. Die Transparenz des Orchestersatzes, seine oft kammermusikalische Zerfaserung machen das Nachhören zum wahren Vergnügen: Weil nichts vom massiven Tutti übermalt wird, sondern das ganze Hin-und-Her der Bausteinchen selbst dort noch zu verfolgen ist, wo sich das versammelte Blech zu martialischem Triumphgeheul vereinigt.

Dann Schostakowitschs erstes bekanntes Orchesterscherzo: Und vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es nur ein kleiner Schritt. »Zunächst«, so Eckhardt van den Hoogen, »rumpelt es gefährlich in den tiefen Streichern; die Atmosphäre lädt sich auf; und plötzlich klirrt das Klavier das Hauptthema des Satzes heraus – mengt sich hier etwa der Pianist Schostakowitsch ein (der damals noch nicht wusste, ob er produzierender oder reproduzierender Künstler werden sollte)? Das an der Stelle des klassischen Trios breit ausströmende zweite Thema gibt sich lyrisch, um später – nach der Reprise des Hauptteils – im ratternden Zusammenspiel mit seinem Widerpart die Coda zu signalisieren. Drei wütende Akkorde im Klavier, die Stimmung kippt, der Spuk endigt sich im Gezirpe starrer Flageoletts.

Wie aus einer anderen Welt erscheint das anschließende Lento. Man mag kaum glauben, dass der vom herrlichen Gesang der Oboe eingeleitete Satz wirklich ernst gemeint sein könnte nach all den voraufgegangenen Schrullen – und doch: Es gibt auch nicht den leisesten Hinweis darauf, dass in dieser Phase des Werkes auch nur die geringste Ironie im Spiele sei. Fürs Finale allerdings werden die Launen der Sätze eins und zwei aufgegriffen. Zwar dräut vorderhand eine langsame, zerfurchte Einleitung. Mit dem Einsatz der Klarinetten aber vollzieht sich die Wende; der Schlusssatz, gewürzt mit dem durchdringenden Martellato des Klaviers, macht sich als Toccata auf und davon. Ein knalliges, kaum aufzuhaltendes Jagen, sarkastisch, grotesk, mit allen Haken und Ösen, die dem 19-Jährigen zu Gebote stehen.«

Andreas Maul

Quelle: hr-Sinfonieorchester