Junges Konzert – 04.02.2015 Riesenwerk mit Glocke

Gustav Mahler: 3. Sinfonie

Es ist eine Musik, in der sich die ganze Welt spiegelt, die das hr-Sinfonieorchester mit seinem neuen Chefdirigenten Andrés Orozco-Estrada in diesem Jungen Konzert präsentiert.

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Programm

NATHALIE STUTZMANN | Alt
LIMBURGER DOMSINGKNABEN
FRAUENCHOR DES EUROPACHORES FRANKFURT
ANDRÉS OROCZO-ESTRADA | Dirigent

Gustav Mahler | 3. Sinfonie

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»Wahres Entsetzen fasst mich an, wenn ich sehe, wohin das führt«, schrieb Gustav Mahler, als er die Ausmaße seines »Riesenwerkes« vor Augen hatte. Dieses so visionäre, ausufernde, Grenzen sprengende Werk ist seine 3. Sinfonie – eine Sinfonie, wie sie vorher nicht denkbar war. Mehr als eineinhalb Stunden lang, fulminant groß besetzt mit sämtlichen Klangfarben von der Piccoloflöte bis zum Kontrafagott, von der Glocke bis zum Posthorn, mit einer Batterie aus acht Hörnern, sechs Pauken, jede Menge Schlagwerk, dazu zwei Chöre und eine Solostimme. Diese Sinfonie ist eine Genesis, sie durchmisst ein ganzes Universum. Sie reicht von der unbelebten Natur bis zur hehren menschlichen Liebe, sie lässt ein kindlich-triviales »Bimm bamm« singen und daneben hoch philosophisch raunen: »Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!« Was für eine Sinfonie! Sie umfasst alles. Mehr geht nicht.

Gustav Mahler (1860–1911)
3. Sinfonie d-Moll (1893-96)

DER KOMPONIST

Gustav Mahler, 1860 im böhmischen Kalischt geboren und 1911 in Wien gestorben, hat Zeit seines Lebens nach neuen musikalischen Ausdrucksformen gesucht. Getrieben von der Vision, »mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufzubauen«, steigerte er die Ausdrucksintensität der Musik ins Extreme und setzte sich über alle Konventionen seiner Zeit hinweg. So avancierte Mahler letztlich zum bedeutendsten Sinfoniker seiner Zeit und zu einem der wichtigsten Brückenbauer der musikalischen Moderne, obwohl er vielfach angegriffen und seine Musik lange missverstanden und verurteilt wurde.

Gleich dreifach heimatlos – als Böhme in Österreich, als Österreicher in Deutschland und als Jude in der Welt –, verhandelte Mahler in seinen Sinfonien alle Widersprüche dieser Welt, und dies in einem Erzählstrom, der in seinen romanhaften Spannungskurven und Zusammenbrüchen den Werken der großen Romanciers der Jahrhundertwende ebenbürtig ist. Die innere Zerrissenheit von Mahlers Musiksprache, die charakteristisch zwischen Poetischem und Banalem, Erhabenem und Trivialem, Tiefempfundenem und Ironischem changiert, wurde allerdings erst 50 Jahre nach seinem Tod richtig verstanden und als bewegendes musikalisches Spiegelbild unserer Gegenwart erkannt.

Im Gegensatz zu seinem schwierigen Stand als Komponist hatte Gustav Mahler als Dirigent zu Lebzeiten eine steile Karriere gemacht: Nach ersten Kapellmeisterjahren in Bad Hall, Laibach, Olmütz, Wien, Kassel und Prag wurde Mahler 1888 Operndirektor in Budapest. Später wirkte er als Chefdirigent in Hamburg und wurde 1897 zum Direktor der Wiener Hofoper berufen – zum »Gott der südlichen Zonen«, wie er es selbst einmal nannte. Ab 1907 bis zu seinem Tod 1911 sollte Mahler dann schließlich auch noch in der Neuen Welt Erfolge feiern: als Musikalischer Leiter der berühmten New Yorker »Met« sowie der Konzerte der New York Philharmonic Society.

DAS WERK

Gustav Mahlers 3. Sinfonie ist eine inhaltlich wie formal außergewöhnliche Komposition, in der Mahler in pantheistischem Geist den Horizont öffnet, um den metaphysischen Blick aufs Ganze zu richten, auf die Totalität der Welt. Um es mit den eigenen Worten des Komponisten auszudrücken: »Ein so großes Werk, in welchem sich in der Tat die ganze Welt spiegelt.«

»Dass ich sie Sinfonie nenne, ist eigentlich unzutreffend«, erklärte Mahler schon zu Beginn der Arbeit, »denn in nichts hält sie sich an die herkömmliche Form. Aber Sinfonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen. Der immer neue und wechselnde Inhalt bestimmt sich seine Form selbst. In diesem Sinne muss ich stets wieder lernen, mir meine Ausdrucksmittel neu zu erschaffen, wenn ich auch die Technik noch so vollkommen beherrsche, wie ich, glaub' ich, jetzt von mir behaupten kann.«

Mahlers Suche nach geeigneten Ausdrucksmitteln war stets mit Anstrengungen und extremen Gefühlserfahrungen verbunden. In einem Brief an die Sängerin Anna von Mildenburg aus Steinbach am Attersee, wo während der Theaterferien 1893–96 die 3. Sinfonie entstand, heißt es: »Aber ich habe es Dir doch geschrieben, dass ich an einem großen Werk arbeite. Begreifst Du nicht, wie das den ganzen Menschen erfordert und wie man da oft so tief drin steckt, dass man für die Außenwelt wie abgestorben ist.« Auf einer Wiese zwischen Gasthof und Seeufer hatte sich Mahler in dem kleinen Urlaubsort ein »Komponierhäuschen« errichten lassen, in dem gerade Platz für Tisch, Sessel, Sofa und ein aus Wien herbeigebrachtes Klavier war. In größter Abgeschiedenheit arbeitete er darin, und es war bei Todesstrafe verboten, ihn dabei zu stören.

Die Isolierung, die Mahler für sein Komponieren benötigte, war nicht nur äußerer Natur. Der Dirigent und musikalische Vertraute Bruno Walter, der ihn 1896 in Steinbach besuchte und Einzelheiten über das Werk erfuhr, noch ehe er es hören konnte, erklärte, dass Inspiration und Schaffensprozess mit Mahlers Dirigententätigkeit unvereinbar waren. Um komponieren zu können, musste sich Mahler zeitweise von der Umgebung abschließen und auch Menschen und Dinge wegrücken, die ihm sonst nahe waren. »Es sind furchtbare Geburtswehen, die der Schöpfer eines solchen Werkes erleidet«, meinte Mahler Anna von Mildenburg gegenüber weiter, »und bevor sich das alles in seinem Kopfe ordnet, aufbaut, und aufbraust, muss viel Zerstreutheit, Insichversunkensein, für die Außenwelt Abgestorbensein vorhergehen.«

Vormittags arbeitete Mahler in seinem »Komponierhäuschen«. Nachmittags, beim Schlendern über die Wiesen oder langen Wanderungen in die Berge, beschäftigte er sich mit seinen musikalischen Gedanken weiter. Als Bruno Walter bei einem gemeinsamen Spaziergang die gewaltige Bergszenerie bestaunte, sagte Mahler zu ihm: »Sie brauchen gar nicht mehr hinsehen – das habe ich alles schon wegkomponiert.«

Mahler ging in seiner leidenschaftlichen Liebe zur Natur geradezu auf, nicht nur ihrer Schönheit, ihres Zaubers willen, sondern auch dann, wenn sie ihm heiter, grotesk, ja fremd erschien, oder wenn sie ihm Ehrfurcht gebot. Mahlers Frau Alma berichtet in ihren »Erinnerungen« von einem bezeichnenden Erlebnis aus späterer Zeit: »Im Sommer in Maiernigg kam Mahler einmal schweißbedeckt aus seinem Arbeitshäuschen heruntergelaufen, konnte sich kaum fassen und bekam es endlich heraus: Die Sommerhitze! Die Stille! Der panische Schrecken! Es hatte ihn gepackt. Entsetzen! Diese Empfindung des brodelnden schrecklichen Auges des großen Pan entsetze ihn oft, und er kam dann mitten aus seiner Arbeit, aus seiner Einsamkeit, um in menschlicher, warmer Nähe unseres Hauses wieder zu sich zu kommen und weiter zu arbeiten.« Dieses für den empfindsamen Mahler charakteristische Bewusstsein von der Natur bildet den entstehungspsychologischen Hintergrund seiner 3. Sinfonie: »Mich berührt es ja immer seltsam, dass die meisten, wenn sie von Natur sprechen, nur immer an Blumen, Vöglein, Waldesluft denken. Den Gott Dionysos, den großen Pan kennt niemand«, meinte er einem Musikkritiker gegenüber und erläuterte weiter: »Dass diese Natur alles in sich birgt, was an Schauerlichem, Großem und auch Lieblichem ist (eben das wollte ich in dem ganzen Werk in einer Art evolutionistischer Entwicklung zum Aussprechen bringen).«

Noch in der Kompositionsphase entwickelt Mahler zu den einzelnen Sätzen Überschriften und Zusätze. Diese »Titelskizzen«, wie er sie nannte, sind in verschiedenen Fassungen überliefert und spiegeln die konzeptionelle Entwicklung der Sinfonie wider. Demnach war ihre Anlage ursprünglich siebensätzig. Nachdem Mahler jedoch sein Werk im letzten Kompositionsschritt mit dem ersten Satz abgeschlossen hatte, nahm er den siebten Satz, Das himmlische Leben, heraus; er sollte später zur Keimzelle der 4. Sinfonie werden und dort als Finalsatz eingehen.

In ihrer endgültigen Form lauteten die Titelskizzen von Mahlers 3. Sinfonie:

Ein Sommermittagstraum

I. Abteilung
1. Pan erwacht. Der Sommer marschiert ein. (Bacchuszug)

II. Abteilung
2. Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen
3. Was mir die Tiere im Wald erzählen
4. Was mir der Mensch erzählt
5. Was mir die Engel erzählen
6. Was mir die Liebe erzählt
Motto: Vater sieh' an die Wunden mein / Kein Wesen lass' verloren sein.


Die Titelskizzen fielen später Mahlers Rotstift ebenso zum Opfer wie die Programme der ersten beiden Sinfonien. In einer Zeit des schwelenden Konflikts zwischen den Verfechtern absoluter und den Anhängern programmatischer Musik musste sich Mahler letztlich gegen jedes Programm entscheiden; die Gefahr, als Programmmusiker verkannt zu werden, schien zu groß für ihn.

Über den ersten Satz der »Dritten«, der neben der Überschrift Pan erwacht – Der Sommer marschiert ein noch die Zwischentitel Der Weckruf!, Pan schläft, Der Herold!, Das Gesindel!, Die Schlacht beginnt! und Der Südsturm! enthielt, schrieb Mahler jedoch in einem Brief an Anna von Mildenburg: »Der Sommer marschiert ein, da klingt es und singt es, wie Du Dir es nicht vorstellen kannst! Von allen Seiten sprießt es auf. Und dazwischen wieder so leblose Natur, die in dumpfer Regungslosigkeit kommendem Leben entgegenharrt. Es lässt sich das nicht in Worten ausdrücken.« Und vom zweiten Satz, auf dem die weitläufige Steigerung der fünfsätzigen II. Abteilung aufbaut, behauptete er: »Es ist das Unbekümmertste, das ich je geschrieben habe, so unbekümmert, wie nur Blumen sein können. Das schwankt und wogt alles in der Höhe aufs leichteste und beweglichste, ohne Schwere nach unten in die Tiefe, so wie Blumen im Winde auch biegsam und spielend sich wiegen… Freilich bleibt es nicht bei der harmlosen Blumenheiterkeit, sondern plötzlich wird alles furchtbar ernst und schwer, wie ein Sturmwind fährt es über die Wiese und schüttelt die Blätter und Blüten, die auf ihren Stängel wimmern, als flehten sie um Erlösung in ein höheres Reich.«

Wie schon bei der 2. Sinfonie bezieht sich Mahler auch in seiner »Dritten« auf Achim von Arnims und Clemens Brentanos Sammlung alter deutscher Lieder »Des Knaben Wunderhorn«: Der dritte Satz, Was mir die Tiere im Wald erzählen, geht auf das bereits in früheren Jahren vertonte naiv-heitere Gedicht »Ablösung im Sommer« zurück, das »vom Kuckuck, der sich zu Tode gefallen« handelt. Den Trio Teil des Scherzando-Satzes bildet die berühmte »Posthorn-Episode«, ein in lieblichen Kantilenen und mildem Hörnerklang gemaltes, romantisches Sommeridyll. Wahrscheinlich in Anlehnung an das gleichnamige Gedicht von Nikolaus Lenau hatte es Mahler ursprünglich Der Postillion überschrieben.

Dem vierten Satz, Was mir der Mensch erzählt, liegt das Mitternachtslied »O Mensch! Gib acht!« aus Friedrich Nietzsches »Also sprach Zarathustra« zugrunde, dessen Gedanken und Ideen seinerzeit auf großes Interesse gestoßen waren – nicht zuletzt in Musikerkreisen. Zur gleichen Zeit, als Mahler an seiner »Dritten« arbeitete, unternahm Richard Strauss mit seinem »Also sprach Zarathustra« den Versuch, Nietzsches philosophisches Traktat in Musik zu setzen. Strauss entwirft eine geniale Stimmungsmusik auf sinfonischer Grundlage: »Sinfonischer Optimismus in Fin-de-siècle-Form, dem 20. Jahrhundert gewidmet«, sollte sie im Untertitel zunächst auch heißen. Anders Mahler: Ihm ist Stimmungsmusik ebenso fremd wie Vertonung im herkömmlichen Sinn. Was er Nietzsches Text entnimmt, entspricht weniger der Grundaussage des »Zarathustra« als vielmehr seiner eigenen pantheistischen Weltanschauung vom Eingebundensein alles Menschlichen in die Natur. Von einem Altsolo im misterioso vorgetragen, steht der tief philosophische Charakter des Textes in auffälligem Kontrast zur realistischen Anschaulichkeit der ersten drei Sätze; Mahler wollte diese Sätze auch eher als Humoresken verstanden wissen; lediglich über jenen kurzen vierten sowie den gewaltigen Finalsatz sagte er, sie seien »tiefster Ernst«.

Auch die heiter-naive Engelsatmosphäre des fünften Satzes mit ihrem Glockenklang und »Bim-Bam« des Knabenchores bildet einen starken Gegensatz dazu. Ihr Text stammt wieder aus »Des Knaben Wunderhorn«, jener Sammlung, die für Mahlers frühe Sinfonien so oft als Inspirationsquelle diente. Nach der stufenweisen Schilderung der erwachenden Natur, der Blumen, der Tiere und des Menschen steht der Satz in der Gesamtkonzeption gewissermaßen zwischen Mensch und Gott, verkörpert die letzte Stufe vor der allumfassenden Liebe, die Thema des Finales ist. In seiner Kernaussage trägt der Text die Versicherung: »Liebe nur Gott in alle Zeit, so wirst du erlangen die himmlische Freud'« – eine kindlich fromme Parabel, mit der sich Mahler des Zustands himmlischen Aufgehobenseins und Glücks vergewissert.

»Im Adagio (dem letzten Satz) ist alles aufgelöst in Ruhe und Sein«, sagte Gustav Mahler einmal über das große Finale der »Dritten«, und in der Tat strahlt der halbstündige Schlusssatz, auf den die gewaltige sinfonische Entwicklung der Sinfonie hinzielt, eine ungemeine Ruhe und Tiefe aus. In ihm konkretisiert sich die höchste Stufe von Mahlers pantheistischem Weltbild, er bedeutet die Quintessenz der Mahler'schen Lebensphilosophie. In den Titelskizzen hatte ihn Mahler mit Was mir die Liebe erzählt überschrieben und gegenüber Anna von Mildenburg, die aufgrund des Titels wohl allzu »irdischen« Gedanken verfallen war, den tieferen Sinn erläutert: »Aber in der Sinfonie handelt es sich doch um eine andere Liebe, als Du vermutest. Das Motiv zu diesem Satz lautet: ›Vater, sieh' an die Wunden mein! Kein Wesen lass verloren sein!‹ Verstehst Du also, um was es sich da handelt? Es soll die Spitze und die höchste Stufe bezeichnet werden, von der aus die Welt gesehen werden kann. Ungefähr könnte ich den Satz auch nennen: ›Was mir Gott erzählt!‹ Und zwar eben in dem Sinne, als Gott nur als ›Liebe‹ gefasst werden kann.«

Andreas Maul

Quelle: hr-Sinfonieorchester